«Ich habe eine schöne, wirklich schöne Kindheit im kleinen Dörfchen Gross an den Ufern des noch jungen Sihlsees erlebt. Da war ich als Kind in fast jedem Haus zuhause. Wir bewohnten das oberste Stockwerk des Schulhauses, wo mein Vater Lehrer war. Die Mutter konnte mich, kaum stand ich auf den Beinchen, getrost alleine ziehen lassen. Sie wusste, dass andere Mütter oder grössere Mädchen mich schon im Auge haben würden beim Spielen oder Runterfallen in den Bach. Diese vertrauensvolle Freiheit war ein wunderbarer Start – das Herumstreifen in Bauernhöfen, Ställen, Wiesen und Wäldern, jedes Wetter, die Jahreszeiten erleben zu können.
Ich glaube, da erhielt ich eine Grundgeborgenheit, ein Grundvertrauen, mich auf das Leben einlassen zu können. So habe ich später selten gezögert, wenn ich angegangen wurde, etwas Neues zu machen. Ich dachte: ‚Probiere es’. Und vieles hat sich dann auch gut entwickelt.»
Karl Saurer
Aus: Filme für den kreativen Widerstand – Zum Wirken Karl Saurers (1943 – 2020)
Karl Saurer wuchs in Einsiedeln auf und besuchte nach der Volksschule das Lehrerseminar in Rickenbach, wo er bereits anfing, Drehbücher zu verfassen.
Nach zwei Jahren als Primarlehrer in Feusisberg studierte er an der Universität Zürich Germanistik mit Schwerpunkt Theaterregie, Geschichte und Psychologie.
Im legendär turbulenten Mai 1968 zog er nach München, um Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität zu studieren. Nach weiteren Zwischenstationen in Köln und Osnabrück schloss er seine universitäre Ausbildung mit dem Magister Artium in Medien- und Literaturwissenschaft sowie Psychologie ab (Thema der Magisterarbeit: Widerspiegelung der Arbeitswelt in Fernsehfilmen).
Bereits während des Studiums realisierte er im Team diverse filmische Arbeiten und schrieb Film- und Theaterkritiken für Tageszeitungen und Fachzeitschriften in Deutschland und der Schweiz.
Mit Erwin Keusch drehte Karl Saurer Das kleine Welttheater, seinen ersten Film. Es ist eine Dokumentation über ein Strassentheater. 1971 wurde der Film an den Solothurner Filmtagen gezeigt.
Anschliessend konzipierten Saurer und Keusch zusammen mit Gerhard Camenzind und Hannes Meier das neue Jugendmagazin Die Kehrseite beim Schweizer Fernsehen. Der erste Beitrag mit dem Titel Ruhe (1970/72), eine ironische Beleuchtung der gesellschaftlichen Strukturen, wurde als zu «kritisch» befunden und das ganze Projekt, ohne Diskussion mit den Machern, von der Fernsehdirektion abgebrochen.
Als Replik produzierten die Jungfilmer den Film Es drängen sich keine Massnahmen auf – oder Selbstzensur ist besser, der wiederum an den Solothurner Filmtagen 1973 gezeigt wurde und zu Auseinandersetzungen mit der Direktion des Schweizer Fernsehens führte. In der Folge führte der Beitrag auch an den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen zu einer regen Auseinandersetzung über Zensur in den Medien.
1972 gehört er zu den Mitbegründern der Genossenschaft Filmcooperative Zürich. Es enstanden 1975 Kaiseraugst, mit dem sie den breiten Widerstand gegen ein geplantes Atomkraftwerk dokumentierten sowie Tatort Luzern oder wem gehören unsere Städte, in dem sie mehr demokratischen Einbezug der Bevölkerung bei der städtischen Raumplanung einforderten.
Ab 1973 schreiben Karl Saurer und Erwin Keusch an einem Spielfilmdrehbuch. Daraus entsteht 1976 unter der Regie von Keusch Brot des Bäckers. Der Spielfilm erhält diverse Auszeichnungen (Deutscher Filmpreis in Silber, Filmband in Gold für den Hauptdarsteller, Max-Ophüls Preis) und macht eine erstaunliche internationale Kinokarriere.
1981 realisieren sie in Co-Regie Der Hunger der Koch und das Paradies – ein Film in dreizehn Gängen, indem sie dokumentarische Aufnahmen, die nicht inszenierbar gewesen wären, mit fiktiven erfundenen Geschichten kombinieren. Wie schon im Vorgängerfilm stehen gesellschaftskritische Anliegen der beiden Autoren im Vordergrund. Der Film erhält die schweizerische Qualitätsprämie.
Karl Saurer war von 1980 bis 1984 Studienleiter und Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie DFFB in Berlin und war zuständig für das DFFB-Forum mit Gästen wie Joris Ivens, Johan van der Keuken, Alexander Mitta, István Szabó und Andrej Tarkowskij.
Ab 1982 war Saurer Dozent an weiteren Universitäten und Lehranstalten. Er leitete Ausbildungsseminare in Europa, Afrika, Indien und den USA.
1982 realisiert Karl Saurer, zusammen mit Hannes Meier, den Dokumentarfilm Das Unbehagen an der Vergangenheit – Schweizer Spielfilme von gestern und heute. Der Film zeigt, wie der Schweizer Spielfilm zwischen 1938 und 1980 die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg darstellte und stösst damit eine Auseinandersetzung mit einem komplexen, leidvollen und damals wenig aufgearbeiteten Kapitel schweizerischer Vergangenheit an. Der Film wurde vom Bayerischen Rundfunk am 20. Oktober 1982 ausgestrahlt, im Schweizer Fernsehen jedoch nie gezeigt.
Ende der 80er-Jahre kehrte er vermehrt nach Einsiedeln zurück, um an dem Filmprojekt über den Bau des Sihlsee-Staudamms zu arbeiten.
Die Begegnung mit Elena Fischli bewog ihn dazu, seinen Lebensmittelpunkt wieder in Einsiedeln zu sehen. Mit seiner Lebensgefährtin als Drehbuchautorin realisierte er in der Folge die meisten seiner Filmprojekte.
Für die Jubiläums-Feier 700 Jahre Eidgenossenschaft gestalteten sie 1990/91 gemeinsam 8 Bulles d’Utopie, Kürzestfilme mit Fantasien über eine Schweiz der Zukunft.
Mit Franz Kälin realisierte er zeitgleich den Film Holz schläike mit Ross, die Dokumentation einer traditionellen ländlichen Waldarbeit, die einem Kunsthandwek gleichkommt.
Der 48-minütige Film Kebab & Rosoli entstand 1992 – in Co-Regie mit Elena M. Fischli – als Reaktion auf eine Reihe von gewalttägigen Übergriffen auf Asylsuchende in der Innerschweiz. Der Film, der im Festival Nyon ausgezeichnet wurde, wird bis heute in der Asyldebatte international eingesetzt.
1993 fand der Film Der Traum vom grossen blauen Wasser – Fragmente und Fundstücke einer Hochtal-Geschichte über den Bau des Sihlsee-Staudamms seine Vollendung. Er führt Konflikte zwischen agrarischer Bergregion und industrialisiertem Unterland, zwischen Enge und Weite, zwischen Eigenständigkeit und Fremdbestimmung, zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen vor Augen.
Im gleichen Jahr erhält er den Anerkennungspreis der Innerschweizer Radio- und Fernsehgesellschaft.
1997 feiert Steinauer Nebraska seine Premiere. Die Geschichte der drei Einsiedler Brüder Steinauer, die nach Amerika ausgewandert sind, ist ein zyklischer, 150 Jahre umfassender Zirkelschlag von Migration, Siedlung, Vertreibung, Auf- und Abstieg.
Die balladeske filmische Schilderung des zähen amerikanischen Pioniergeists kontrastiert Saurer mit «janusgesichtigen» Gegen-Bildern: Was für die damaligen hiesigen «Wirtschaftsflüchtlinge» ein hoffnungsvoller Anfang in der «Neuen Welt» bedeutete, war für die amerikanischen Ureinwohner der Anfang einer Entwicklung von existentieller Gefährdung, Vetreibung und unsagbarer Traurigkeit.
Das Fresko eines asiatischen Elefanten am Hotel Elephant in Brixen inspirierte Karl Saurer zum Film Rajas Reise. Für die Dreharbeiten reiste er mehrmahls nach Indien und arbeitete dort mit einheimischen Filmtechnikern. Es entstand ein wunderbarer Film über europäische Kolonialgeschichte und indische Gegenwart.
Auch Saurers letzter Film Ahimsa – Die Stärke von Gewaltfreiheit entstand in Indien. Der Film zeigt den jahrelangen gewaltfreien Kampf einer Dorfgemeinschaft von Ureinwohnern im indischen Madhya Pradesh für ihr Recht auf Boden, Wasser und ein menschenwürdiges Leben.
2018 würdigt der Kanton Schwyz das filmische Werk Karl Saurers und verleiht ihm den kantonalen Kulturpreis.
Am 12. März 2020 verstarb er unerwartet, ohne den Film über den ebenfalls in Einsiedeln geborenen Arzt und Philosophen Paracelsus vollenden zu können.
«Ich habe versucht, den Werten zu entsprechen, die mir wichtig sind. Empfinden zu können, dass ich wirklich gelebt habe.
Die Welt nicht einfach angenommen, wie sie ist. Sondern gefragt, warum sie so ist. Und mich eingemischt.
Wenn man sich nicht einmischt, akzeptiert man den Zustand.
Wir im reichen Norden und Westen haben unsere Seele dem Materialismus verkauft.
Und sind dabei auf einem unglaublichen Holzweg angekommen.»
Karl Saurer